An vielen Orten in Stuttgart fühlen sich Frauen unsicher

Unsichere Orte in Stuttgart

Stuttgart ist eine der sichersten Großstädte Deutschlands. Trotzdem läuft die Mehrzahl der Frauen mit dem Schlüsselbund in der geballten Faust in der einen und mit dem zum Notruf bereiten Handy in der anderen Hand abends nach Hause. Weil sie Angst haben. Das zeigt auch die jüngste Aktion des Stuttgarter Frauenkollektivs. Unter dem Motto „Wo beginnt für dich Gewalt?“ befragten die Aktivistinnen Frauen, wo sie sich in der Stadt unsicher fühlen. Nach mehr als 100 Nennungen konnten sie fast 40 Orte zusammentragen – vor allem die Gegend rund um den Hauptbahnhof, aber auch Unterführungen, Haltestellen und Parks wurden dabei häufig genannt.

„Es gehört zum Leben von Frauen, dass es im öffentlichen Raum Orte gibt, an denen sie sich fürchten“, sagt Marion Schöndienst vom Frauenkollektiv. „Vor allem den Nachhauseweg im Dunkeln erleben Frauen komplett anders als Männer“, ergänzt ihre Mitstreiterin Gianna Gentili. „Man plant bereits im Voraus, wie man sicher nach Hause kommt, muss sich fragen, ob der Rock vielleicht zu kurz ist oder die Schuhe zu laut.“

Noch wertet das Team die Umfrage aus, am Ende könnte ein Stadtplan mit markierten Orten stehen – ähnlich wie bei der Studie, die als Inspirationsquelle zu der Aktion gedient hat: Die Hilfsorganisation „Plan International“ ermittelte kürzlich angsteinflößende Orte in den Städten Hamburg, Berlin, München und Köln und stellte diese als virtuelle Karte ins Netz.

Aber wie können Städte Angsträume vermeiden? Unter dem Schlagwort „Gender Planning“ gibt es in der Stadtplanung Konzepte, die zeigen, wie man das Sicherheitsgefühl vergrößern kann – als Vorreiter gilt hier Wien.

„In Stuttgart gibt es aber weder ein solches Konzept noch jemanden, der sich damit befasst“, kritisiert die Architektin und Stadtplanerin Christina Simon-Philipp. Denn es sei möglich, Angsträume mittels städtebaulicher Maßnahmen und guter Quartiersplanung zu vermeiden – zum Beispiel durch entsprechende Wegführungen, Lichtkonzepte und eine gute Freiflächengestaltung.

Besonders wichtig ist das Thema Nutzungsmischung: „Das Europaviertel mit all den Banken ist etwa nur tagsüber belebt. Auch in monostrukturierten Gewerbegebieten entstehen oft Angsträume, weil hier abends und am Wochenende kaum Menschen unterwegs sind“, so Simon-Philipp. In vielen Planungen der 60er und 70er entstanden in Stuttgart Quartiere mit einer Funktionstrennung zwischen Wohnen und Arbeiten. Auch eine Trennung der Verkehrsarten fand statt: Fußwege sind oft – etwa durch Unterführungen – komplett abgekoppelt von der sonstigen Erschließung. Wie es besser geht, zeigen zum Beispiel der Marienplatz – früher Angstraum, heute einer der belebtesten Orte der Stadt – oder das neue Olga-Areal im Stuttgarter Westen: „Solche gemischt genutzten Quartiere sind sinnvoll, weil so eine gewisse Sozialkontrolle entsteht“, sagt die Stadtplanerin.

Eine umfassende Kameraüberwachung wie in Großbritannien sieht sie kritisch: „So etwas sollte wenn, dann nur sehr sparsam und an Brennpunkten eingesetzt werden.“

Früher sei Stadtplanung eine Männerdomäne gewesen, sagt Simon-Philipp – „aber an den Studierendenzahlen sieht man, dass sich das gerade ändert“. Das ist eine gute Nachricht: Studien belegen nämlich, dass Frauen oder gemischte Teams anders planen.

Für Marion Schöndienst vom Frauenkollektiv liegt das Problem tiefer: „Dass es so etwas wie Gender Planning braucht, ist alarmierend. Wir wünschen uns, dass wir uns sicher fühlen – auch wenn es draußen dunkel ist.“

     

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Anna: Allein im Taxi

„Ich hatte in Köln meine Bahn verpasst und musste einen späteren Zug nehmen. Darum kam ich erst um vier Uhr nachts in Stuttgart an und wollte einfach nur nach Hause, also stieg ich ins Taxi. Als ich dem Mann sagte, er solle mich in die Alexanderstraße fahren, schrie er mich an, ich würde seine Familie und sein Leben ruinieren. Er habe fünf Kinder und sei Alleinverdiener. Vier Stunden habe er in der Taxi-Schlange gestanden, um mich dann für nur zehn Euro in die Alexanderstraße zu fahren. Dann packte er mich am linken Arm und begann, mich fest zu schütteln. Ich bat ihn darum, aussteigen zu dürfen, doch er ließ mich erst am Olgaeck los. Dann wurde er plötzlich still. Ich glaube, dass er erst da gemerkt hat, wie sehr ich weinte.

Vor der Haustür gab ich ihm all mein Geld – ich glaube, es waren 40 Euro. Ich hatte Angst, immerhin wusste er, wo ich wohnte. Ich habe meine Sachen geschnappt und bin rausgerannt. Seitdem bin ich nie wieder allein in ein Taxi gestiegen.“

Lily: Zu fünft

„Ich lief gegen drei Uhr alleine über die Königstraße zum Nachtbus. Unterwegs waren nur noch ein paar Betrunkene – darunter auch eine Gruppe von fünf Männern, die mich schon aus der Ferne einschüchterten. Sie waren sehr präsent und grölten laut herum. Dann wurden sie auf mich aufmerksam und kamen direkt auf mich zu. Mein erster Gedanke war nur: bloß weg hier.

Sie haben mir den Weg abgeschnitten und laberten zu fünft auf mich ein, fragten mich, wo in Stuttgart noch was geht. Ich bin nicht auf sie eingegangen und lief weiter, woraufhin sie wütend hinter mir her schrien und mich beschimpften. Ich bin fast gerannt, und zum Glück war es ihnen wohl zu blöd, mir zu folgen. An der Nachtbushaltestelle standen dann wieder fast nur betrunkene Männer herum – zur Sicherheit habe ich mich darum zu den wenigen Frauen gestellt, die auch dort waren.“

Mia: In Cannstatt

„Ich fuhr unter der Woche mit der letzten S-Bahn nach Bad Cannstatt und dabei versehentlich eine Haltestelle zu weit. Am Neckarpark war es total dunkel, aber ich musste ja nach Hause und lief deshalb zu Fuß am Daimler-Werk vorbei – eine wirklich unangenehme Ecke. Unterwegs fragte mich ein Mann freundlich nach dem Weg. Weil er ebenfalls nach Cannstatt musste, gingen wir gemeinsam und hielten Smalltalk. Schließlich fanden wir noch einen Bus zum Bahnhof.

Als ich mich dort verabschieden wollte, wurde er ungemütlich und bestand auf meine Handynummer. Ich weigerte mich und behauptete, ich hätte einen Freund – daraufhin wurde er plötzlich wütend: Er versperrte mir den Weg und schrie mich an. Die wenigen Leute, die noch unterwegs waren, beachteten uns nicht. Irgendwann konnte ich mich an ihm vorbeischlängeln, aber auf dem Nachhauseweg hatte ich große Angst, dass er mich verfolgt.“

Bettina: Unterirdisch

„Ich kam von einer Weihnachtsfeier und wartete in der Arnulf-Klett-Passage auf meine U-Bahn. Dort war ich in mein Handy vertieft und sah nicht, dass jemand auf mich zukam. Erst im letzten Moment schaute ich auf, als mir ein fremder Mann ins Gesicht spuckte.

Meine ganze linke Gesichtshälfte war feucht. Ich wischte die Spucke mit dem Ärmel weg und war zuerst nur wütend. Ich rief ihm hinterher, was er wolle und dass ich nichts getan hätte. Keine Reaktion. Im zweiten Moment sah ich mich hilfesuchend nach Polizisten oder anderen Menschen um – dort war aber niemand, also hastete ich so schnell wie möglich an ihm vorbei zur Bahn. Erst als ich in der Stadtbahn saß, merkte ich, dass er mir gefolgt war. Ich war heilfroh, als sich vor ihm die Türen schlossen. Im Wegfahren trat er mit seinem Fuß gegen die Scheibe, an der ich saß. Zuhause habe ich eine halbe Stunde lang geduscht, weil ich mich so ekelte.“

Dieser Artikel ist aus LIFT 01/21

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