LIFT-Aktuell im November

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LESEPROBE

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DER TRAUM VOM SPIELEN

MAXIMAL AUSGESIEBT: WER ERGATTERT EINEN DER RAREN PLÄTZE AN DER SCHAUSPIELSCHULE?

Wenn der Berufswunsch auf die Wirklichkeit trifft, kann das manchmal richtig wehtun. Das gilt vor allem für den, der auf der Bühne stehen möchte. Schauspieler werden wollen viele. Nur wenige schaffen den Sprung in eine Schauspielschule und nur die allerwenigsten ergattern einen der begehrten Plätze an einer Staatlichen Schule. Hat man es dorthin allerdings geschafft, eröffnen sich viele Wege.

Elena Berthold kann ein Lied davon singen – fast zwei Dutzend Vorsprechen absolvierte die 22-Jährige. „Ich habe mich überall beworben, an allen Schulen und bin immer wieder rausgeflogen“, erzählt sie. Der feste Glaube an ihre eigenen Fähigkeiten ließ es sie trotzdem immer wieder versuchen. 

Und der führte Berthold auch ein zweites Mal nach Stuttgart, wo es schließlich klappte. „Es war das Natürlichste der Welt“, begründet sie heute ihre Ausdauer. Natürlichkeit strahlt die junge Schauspielerin aus, obwohl sie glatter, professioneller daherkommt als andere. 

Eine solche Odyssee nehmen viele auf sich, bis es endlich klappt: Im deutschsprachigen Raum gibt es 26 staatliche Schauspielschulen, 16 davon in Deutschland. Die Ausbildung ist subventioniert, es bestehen oft Kooperationen mit großen Häusern und Unterricht bei renommierten Persönlichkeiten. Das Sprungbrett, auf dem man in die harte Wirklichkeit katapultiert wird, ist also gut gefedert – und heiß umkämpft.

Die Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst ist da keine Ausnahme, bestätigt Frederik Zeugke, Dozent für Dramaturgie und Theorie des Theaters. Man zählt im darstellenden Bereich zu den führenden Institutionen Deutschlands, auch die Ausbildung in Oper, Sprechkunst und Figurentheater genießen die Stuttgarter einen Top-Ruf. „Unser Alleinstellungsmerkmal ist das Schauspielstudio“, betont der Dozent. Vor dem Ende der Ausbildung gehen die Schüler an ein Theater, um dort im geschützten Raum, unter den Fittichen der Schule, Erfahrungen mit Bühnenprofis zu sammeln. „Es ist der Versuch, eine Schanze zu bauen“, sagt Zeugke. Keine der anderen Schulen in Deutschland bietet etwas Vergleichbares an.

Davor steht das harte Auswahlverfahren. Auch für die Schulleitung ist das ein Kräfte zehrender Prozess: „Wir haben etwa 500 Bewerber pro Jahr und acht Plätze zu vergeben“, sagt Zeugke. Am Ende der Aufnahmeprüfung dürfen vier Männer und vier Frauen in Stuttgart bleiben.

Durch insgesamt drei Runden spielen und singen sich die Bewerber. „In der dritten und letzten Runde sind noch etwa 40 Leute übrig, von denen wir acht aufnehmen“, so Zeugke. Jeder, der sich bewirbt, wird angeguckt, darunter viel mehr Frauen als Männer. Die Bewerber bilden im besten Fall verschiedene Typen ab, harmonisieren als Gruppe und sind nicht über 25 Jahre alt.

Bei Philippe Thelen hat es gerade noch so hingehauen. „Ich wusste, das ist meine letzte Chance“, sagt der 25-Jährige. „Warum kommen Sie erst jetzt?“, wollten sie beim Vorsprechen alle von ihm wissen. Weil der Luxemburger seinem Vater zuliebe zunächst Germanistik studierte – bis zum Master. „Mein Vater war lange schwer krank und ist ausgerastet, als ich ihm sagte, ich will Schauspieler werden“, erzählt Thelen, der schon als Knirps Dirk Bachs Sketche bis ins kleinste Detail studierte. Zunächst waren Familienfeiern seine Bühne, später das Dorftheater. Und doch wollte er seinen Traum nicht ohne die Zustimmung des Vaters leben.

Also ging er fürs Studium nach Freiburg. Nach dem Master fasste er trotzdem den Entschluss: „Vorsprechen. Jetzt. Bevor sich altersbedingt die Türen schließen.“ Stuttgart war nach Rostock sein zweiter Versuch. „Ich war überzeugt, dass es klappt. Es musste einfach klappen. Ich habe um mein Leben gespielt “, erzählt der junge Schauspieler.

So oder so ähnlich beschreibt auch Nurretin Kalfa das Grundgefühl, mit dem er zur Bewerbung nach Stuttgart reiste: „Ich war mir ziemlich sicher, dass ich es auf die Schule schaffe.“ Weil er daran glaubte, dass er etwas kann, dass er es weit bringen wird. Dabei ist der Niederösterreicher mit türkischen Wurzeln alles andere als der typische schöngeistige Gymnasiast mit bürgerlichem Hintergrund und einem Faible für die großen Dramen.

Nurretin hat eine starke physische Präsenz. Dieses Körperliche kommt nicht von ungefähr: Nach einer Maurerlehre ging er zu den Hochgebirgsjägern. Sein Bruder spielte jedoch beim Amateurtheater Motiv in Bregenz, wo auch Kalfa erstmals Theaterluft schnupperte: „Ich hatte null Ahnung von der ganzen Sache“, sagt er. Aber nach den zarten Versuchen entdeckte man sein Talent und bestärkte ihn darin, Schauspieler zu werden.

Mit seinem studierten, wortgewaltigen Kommilitonen Philippe verbindet den Kampfsportler wenig. Und doch so viel: Lebenserfahrung. Sie hat sie zu diesen authentischen Personen geformt, die sie auch auf der Bühne sind – und die Zeugke und seine Kollegen suchen: „Mit einer festen Überzeugung kann man auf der Bühne fester spielen, mit einem eigenen Standing ist man offener, wandlungsfähiger, neugieriger, präsenter.“

Der junge Österreicher mag etwas ruppig, ja fast krude wirken, er strotzt vor Selbstbewusstsein: „Wenn das nix wird, mache ich eine Kung-Fu-Schule auf.“ Diese Überzeugung ist für Jonathan Springer nicht so einfach. Elf Mal hat sich der 21-Jährige quer durch Deutschland beworben, nirgends hat es geklappt. „Nach den ersten Vorsprechen war ich total verunsichert“, erzählt Springer, der aus Benningen stammt und in der Stuttgarter freien Theaterszene reüssiert. Gerade ist er in „Heaven“ im Esslinger Komma zu sehen. Trotzdem hat er jetzt ein Grundschullehramtsstudium angefangen – „um was zu haben.“

Von der Ausbildung an einer Staatlichen Schauspielschule träumt er weiterhin. Aber er ahnt, wo das Problem liegt: „Bei jedem Vorsprechen will ich alles reinpacken, mache mir schon im Vorfeld zu viele Gedanken, kann den Kopf nicht abschalten – und bin dann total down, wenn es wieder nicht klappt.“ Wie bei über 400 anderen jedes Jahr, die mit ihm den Traum vom Spielen teilen.

Nina Kwiatkowski

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