Frohes neues Jahr!

Worüber wir 2021 sprechen, wenn wir nicht mehr über Corona sprechen

Bye Bye, Pandemie(müll)

„Es isch, wie es isch, und jetzt isch over": Was Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im Herbst über den abgewählten Trump sagte, gilt irgendwann im Jahr 2021 auch für die Corona-Pandemie. Endlich keine Diskussionen um sanfte oder harte Lockdowns, Abstandsregeln, Maskenpflicht, Beherbergungsverbote, Schul-, Gastro- oder Kulturortschließungen mehr – all das wandert bald auf den Müllhaufen der Geschichte. Und der ist in Stuttgart ganz real und sogar einen Namen: Monte Scherbelino.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs der so genannte Birkenkopf dank der aufgeschütteten Trümmer um ganze 40 Meter in die Höhe. Da wäre aber schon noch Luft nach oben?! Immerhin haben wir nach einem knappen Jahr Couchpotatoe-Dasein einen riesigen Haufen an Einwegmasken, Pizzakartons und To-Go-Verpackungen loszuwerden – gerne hinaufgekarrt von ehemaligen Lieferando-Boten. „Isch over“ gilt ab Sommer 2021 aber auch für Kunststoff-Wegwerfartikel aller Art. Die sind aus Gründen der Nachhaltigkeit dann nämlich offiziell verboten – und das ist nicht nur gut so, weil sie uns an Corona erinnern.

Quo vadis, Stuttgart?

Bei vielen ist die Befürchtung groß: Noppert sich der Kessel mit dem neuen OB nun in die 80er zurück? Den „Verkehrsfrieden“, von dem Autofreund Nopper gerne spricht, gibt’s womöglich nur nach einer Kapitulation aller Radfahrer und 365-Euro-Ticket-Befürworter. Auch die investorenfreundliche Wohnpolitik der „Murr-Metropole“ Backnang erinnert eher ans Stuttgart von Gestern als an das von Morgen. Aber vielleicht überrascht uns Frank Nopper ja auch und wagt zusammen mit dem Gemeinderat einen Blick in die Zukunft unserer Stadt – und die ist klimaneutral, divers und von modernen Mobilitäts- und Wohnkonzepten geprägt.

Dabei hilft vielleicht ein Blick in die Vergangenheit – auf den guten alten Knigge nämlich: Der empfahl höflichen Gästen, zu essen, was auf den Tisch kommt. Die neue First Lady weiß da sicher Rat.

Tanz den Drosten

Kaum eine Branche hat es im Coronajahr so schlimm erwischt wie die Clubszene. Auch 2021 wird vor dem Sommer vermutlich kein Club im Kessel seine Tore wieder öffnen dürfen. Und viele werden nach über einem Jahr Durststrecke nicht mehr dazu imstande sein. Aber Hoffnung naht: Im März gehen in Stuttgart nämlich gleich zwei (!) NachtmanagerInnen an den Start und sollen für dringend benötigte neue Impulse in der Nachtkultur sorgen.

LIFT hätte da schon mal einen Vorschlag für den Kickstart zurück in die Normalität: Widmet die leerstehenden Clubs doch einfach in Impfzentren um! Erst wird gespritzt und dann getanzt – fast wie früher am Marienplatz. Mit einem Kurzen aufs Haus – nach dem Motto „A Shot for a Shot“ – wird sicher auch der größte Impfmuffel schwach.

Endlich wieder Nähe

Apropos Clubkultur – für die möchte sich auch Stuttgarts neuer OB Frank Nopper mächtig ins Zeug legen. Wenn er dann aber hört, dass es im Freund und Kupferstecher gar keinen Fassanstich gibt, wird er als erste Amtshandlung lieber den Wasen um eine Woche verlängern. Doch was für viele StuttgarterInnen sonst ein Horror wäre, macht sie 2021 tatsächlich glücklich.

Man steht eingequetscht in einer überfüllten U-Bahn voller betrunkener Wasenbesucher – Mundgeruch hin oder her – endlich schauen wir wieder in lächelnde Gesichter! Im Festzelt teilen wir uns mit dem fremden Sitznachbarn die Maß und schunkeln mit halb Europa zum größten Musik-Schrott – einfach nur, weil wir’s können. Und im VfB-Fanblock nebenan freuen wir uns selbst noch über das verbockte 1:2 gegen Freiburg und feiern dann eben einfach uns selbst – endlich wieder Zwölfter Mann! Aber keine Sorge, Bruddler bleiben wir Stuttgarter trotzdem: Der nächste Spieltag kommt bestimmt. Oder das nervige zweite, dritte und nun gar vierte Wasenwochenende.

Lost Place Stuttgart-Mitte

Die Innenstadt ist tot – es lebe die Innenstadt? Setzt sich die durch Corona noch einmal verschärfte Einzelhandelskrise in der Innenstadt weiter fort, steht bald die halbe Königstraße leer. Passend dazu kommt auch der Fluxus-Nachfolger – die im Sommer 2021 eröffnende Calwer Passage mit grün überwucherter Fassade – gleich als Lost Place daher. Die Botschaft ist klar: Die Natur erobert sich die verfallende Stadt zurück.

Aber vielleicht tun das ja auch die Menschen – wenn die Ladenmieten in der Innenstadt so stark sinken wie in manchen Prognosen gemutmaßt, eröffnet das schließlich ganz neue Chancen. Geschäftsideen dürften die StuttgarterInnen 2020 ja zu Genüge gesammelt haben: Wir wetten auf mindestens acht neue Unverpacktläden, ein gutes Dutzend Bananenbrotbackstuben und schier unzählbare Second-Hand-Shops für all den Krempel, der während der Lockdowns ausgemistet wurde. Den Rest des Leerstands machen dann Aldi, Lidl und sämtliche Burgerketten der Republik unter sich aus.

Wohin mit der Wut?

Wogegen protestieren eigentlich die Querdenker, wenn sie nicht mehr über Corona reden? Wenn alle bis auf sie selbst von Bill Gates gechippt worden sind und uns das 5G-Netz noch immer nicht in willfährige Zombies verwandelt hat? Fakt ist: Protestdemos sind längst zum normalen Habitat des Stuttgarters geworden – egal, ob Dieselverbote, Corona-Maßnahmen oder S21. Ein neues Thema kommt bestimmt.

Das Zeug für weitere krude Verschwörungstheorien hat das neue Jahr allemal: Am Flughafen und über Stuttgarts Himmel herrscht wieder Normalbetrieb? Aber nur wegen der Chemtrails! Querdenker Ballweg wird im März nicht zum neuen Ministerpräsidenten gewählt? Die Wahlen sind gefälscht! Vielleicht schließen sich die Querdenker aber auch einfach den verbliebenen S21-Gegnern an: So ein unterirdischer Bahnhof ist schließlich lebensgefährlich, wo doch die Welt in Wahrheit eine Scheibe ist. „Ein Fass ohne Boden“ – darauf könnten sich die Protestgruppen wohl problemlos einigen.

Illustrationen: Paulina Eichhorn, Texte: Frank Rudkoffsky

Dieser Artikel ist aus LIFT 01/21

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