Vor Ort mit Harry Pfau

Mit spannenden Menschen an spannenden Orten

Folge 158: Mit Harry Pfau vom ehrenamtlichen Foodsharing-Projekt „Harrys Bude” auf der Karlshöhe.

Harry Pfau friert auch nach einer Stunde draußen bei knapp über Null Grad nicht. Natürlich ist er warm angezogen, andere würden trotzdem bibbern. Aber wer jahrelang bei jedem Wetter auf der Straße gelebt hat, hält das aus. Eine eigene Wohnung hat Harry Pfau wieder, draußen ist er trotzdem jeden Tag:  an der Tübinger Straße bei der Kirche St. Maria, dort, wo „sein” Platz ist, wo Harrys Bude steht.

Dort kann jede und jeder, der oder die Hunger, aber kein Geld hat, sich Essen holen, kos­-tenlos. Wer es sich leisten kann, darf gerne etwas oder auch ein bisschen mehr spenden. Die Lebensmittel kommen von Supermärkten und anderen Läden, die sie sonst weggeworfen hätten. Manche sind kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums, andere sind einfach übriggeblieben und gespendet worden. Das Projekt hat Pfau ein bisschen berühmt gemacht, sogar im Nachtcafé des SWR war er schon. Zur Zeit unseres Gesprächs ist er für die Wahl zum „Stuttgarter des Jahres” nominiert. Der Weg zu seiner Bude war aber lang und überhaupt nicht einfach für ihn.

Harry Pfau, Jahrgang 1961, erzählt von einem Leben voller Kipppunkte – in die eine wie in die andere Richtung. Seine Mutter starb als er gerade fünf war. Drei Jahre lang schaffte es seine deutlich ältere Schwester, sich zu kümmern. Als für sie alles zu viel wurde, musste er in ein Heim umziehen, da war er acht. „Es lief alles gut”, erzählt er. Aufs Heim lässt er nichts kommen, er macht eine Ausbildung zum Maler und Gerüstbauer, er hat Wohnung, Arbeit, eine Beziehung.

Und er trinkt. Alkohol war zu der Zeit auf Baustellen normal, er sei auch familiär vorbelastet gewesen, erzählt er. „Irgendwann war es das Wichtigste, die Sucht zu befriedigen.” Man rede sich das eine Zeitlang schön, irgendwie werde es schon klappen. Aber dann beginnt die unheilvolle Spirale sich zu drehen, abwärts. Die Beziehung zerbricht, dann ist der Job weg, dann die Wohnung. Auf einmal lebt er auf der Straße, Sommer wie Winter, hat seine Leute, mit denen er trinkt, hat seinen Platz, an dem er – meistens alleine – schläft, oben auf der Karlshöhe, einem seiner Erinnerungsorte in der Stadt.

Viele Jahre vergehen so, am Ende waren es dreizehn Jahre auf der Straße. Dann, an einem Wochenende, wechselt die Abwärtsspirale ihre Richtung. Pfau hat wieder einmal mit anderen getrunken, richtig viel, sich richtig abgeschossen. Und es tut richtig weh, als er morgens aufwacht. „Was machst du eigentlich für einen Schwachsinn?”, habe er sich in dem Moment gefragt – und von heute auf morgen mit dem Trinken aufgehört, ganz allein, ohne Unterstützung. „Ich habe es am Anfang körperlich gemerkt”, sagt er nur wenige Meter entfernt von einem der bekannten Trinkertreffs in der Stadt bei der Paulinenbrücke. Aber er ist bewusst an die Orte gegangen, wo er früher „gesoffen” hat, um es eben nicht mehr zu tun. „Es war jeden Tag ein Kampf”, wie er sagt, aber Pfau hat ihn gewonnen.

„Auf der Straße genießt du eine gewisse Freiheit, du bist keinem verantwortlich”, erklärt er, warum manche Wohnsitzlose es nicht lange in Notunterkünften aushalten oder sie ganz meiden. „Aber irgendwann, wenn man älter wird, merkt man minus 15 Grad halt doch.” Zu der Zeit macht er am Wochenende immer seine Touren, um Pfandflaschen zu sammeln. Mitten in der Stadt sei er auf irgendetwas ausgerutscht und voll hingeknallt. Die Schulter tut weh, aber das wird schon vorbeigehen, denkt er sich erst. Als das nicht passiert, geht er doch in die Notaufnahme im Marienhospital. Aber ohne Krankenversicherung hat er viel zu wenig Geld für eine gründliche Untersuchung, also geht er wieder. Der Schmerz bleibt.

Einige Tage später wendet sich Pfau an die Ärzte vom Med-Mobil. Die Schulter muss behandelt werden, aber nicht auf der Straße. So kommt er erst in die Notunterkunft an der Hauptstätter Straße, drei, vier Monate später, die Schulter ist langsam geheilt, ins Carlo-Steeb-Haus für wohnungslose Männer der Caritas in Bad Cannstatt.

Als die Vesperkirche ihr Projekt „Vesper To-Go” mit mehreren Verteilstellen in der Stadt und auch einer an der Paulinenbrücke startet, wird er gefragt, ob er nicht helfen wolle, Essen zu verteilen. So kommt Pfau in Kontakt mit der Gemeinde Sankt Maria gleich nebenan und zu dem Beteiligungs- und Entwicklungsprozess, der dort im Mai 2017 unter dem Titel „St. Maria als” startet.

Eine der vielen und vielbeachteten Initiativen, die daraus entstanden, war das Marien-Fair-Teiler-Projekt. Solche Fair-Teiler gibt es inzwischen bundesweit, dort werden Lebensmittel, die sonst weggeworfen würden, kos­tenlos abgegeben. Die Gemeinde St. Maria und der Verein Foodsharing wollten so etwas auch testen – ein eigentlich für Pedelecs gedachter Container stand schon auf dem Kirchengrundstück. Am 17. August 2020 öffnet  der mit einer Theke versehene Container mit Marktstand-Charakter zum ersten Mal. Harry Pfau ist von Anfang an dabei.

„Wir haben relativ schnell gemerkt, dass es mehr ist, als nur Essen ausgeben”, sagt Pfau. Es wurde nach Schlafsäcken gefragt, nach Isomatten, es kamen gut gekleidete Menschen, denen man ihre Armut nicht ansah, die sich dafür schämten. „Das hat sich dann immer weiterentwickelt.” Und weil er immer da war, anfing, die Dinge zu organisieren, bis hin zu den heutigen Dienstplänen, ohne die es bei rund 50 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern gar nicht mehr ginge, bekam die Bude seinen Namen: „Harrys Bude”, mit eigenem Logo und eigener Website, www.harrys-bude.org.

„Mir geht’s gut”, sagt Harry Pfau, der heute von Hartz IV lebt und sich in „seiner” Bude rein ehrenamtlich engagiert. Die katholische Kirche hat den Container gekauft, übernimmt die Stromkosten, Gemeindemitglieder helfen bei der Abholung und Verteilung der Lebensmittel. „Wir sind die Blaupause, die zeigt, wie es funktionieren kann”, so Pfau. Inzwischen wollen SchülerInnen ihr Sozialpraktikum in Harrys Bude machen, er selbst geht in Schulklassen und erzählt von seinem Lebensweg. Und er hofft, dass es bald viele solcher Buden in Stuttgart und anderswo gibt, Anfragen aus Köln und Nürnberg sind schon eingegangen.

Der ehrenamtlich Engagierte hat dank der Kirche wieder eine eigene Wohnung. „Das erste Mal nach Hause kommen war schon besonders”, erinnert er sich. „Es ist wohl nicht ganz falsch, was wir hier machen.” Er könne hier etwas bewegen, verändern, Menschen helfen. Im Lockdown durften er und sein Team weiter Lebensmittel ausgeben, weil sie zur Grundversorgung gezählt wurden. Knapp 120.000 Menschen hätten sie, seit es die Bude gibt, versorgt. Und das in einer so reichen Stadt. „Inzwischen kann man sich halt in der Gesellschaft nicht mehr alles schönreden”, sagt Pfau. Auch und gerade in Stuttgart nicht.         

Jürgen Brand

Dieser Artikel ist aus LIFT 03/23

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