Stuttgart verliert EinwohnerInnen ans Umland

Landei-Life rules

Knapp 604.000 EinwohnerInnen hat die Landeshauptstadt, Tendenz sinkend. Und das schon das zweite Jahr in Folge. Die Zuzüge aus dem Umland nehmen ab, die Fortzüge ins Umland nehmen zu. Insgesamt hat Stuttgart 2021 5.208 EinwohnerInnen ans Umland verloren, das ist Rekordwert. Ist Stuttgart nicht mehr sexy genug?

 

Ein Haus mit Garten ist im Kessel unbezahlbar

Anna Henn und ihre Familie hat es richtig weit raus verschlagen: Nattheim, rund 6.000 EinwohnerInnen, in der Nähe von Heidenheim, tiefste Ostalb oder auch „Schwäbisch Sibirien“ genannt. Wohl fühlen sie sich trotzdem: „Wir haben hier alles was wir brauchen: Schule, Kindergarten und Einkaufsmöglichkeiten sowie mit Aalen, Heidenheim und Ulm drei größere Städte in der Nähe“, sagt Henn.

Der Wegzug aus Stuttgart ging in zwei Etappen über die Bühne. Auf der Suche nach mehr Platz ging’s vor zehn Jahren von Stuttgart-Ost nach Leinfelden-Echterdingen, nun, vor einem Jahr, noch weiter raus nach Nattheim. „Durchs Homeoffice sind wir beruflich nicht mehr an einen Ort gebunden und haben so die Möglichkeit genutzt, uns ein Leben im eigenen Haus mit großem Garten zu verwirklichen“, erklärt Henn.

Die örtliche Unabhängigkeit vom Beruf sei wie ein Lottogewinn. Auch wenn es anders klingt – ganz freiwillig war der Schritt nicht: „Wenn es etwas Bezahlbares in Stuttgart gegeben hätte, wären wir geblieben“, schätzt Henn. Einen Groll auf die Stadt schiebt sie deshalb nicht: „Da komme ich her, ich war gerne in Stuttgart und mag die Stadt immer noch.“ Zurück will sie inzwischen nicht mehr – ganz im Gegenteil. „Wir spielen gerade mit dem Gedanken die Nachbarswiese zu pachten und uns Tiere anzuschaffen“, verrät sie. Mehr Landleben geht nicht.

Hilfsbereite Ämter, statt Baustellenchaos

13 Jahre lang war Benedict Ireland mit seinem Möbel- und Wohnaccessoiregeschäft Ascawo in der Hirschstraße in Stuttgart vertreten. Mitten im Geschehen, erste Lage. Vor mehr als zwei Jahren brach er die Zelte ab und wanderte mit seinem Laden aus: nach Fellbach. „Weder Corona noch die Miete waren der Grund“, erklärt der Möbelhändler. „Die Liefersituation war nicht mehr länger tragbar.“ Das Befahren und Halten in der Hirschstraße, auch zu Lieferzwecken, ist nicht erlaubt. „Früher hat das niemanden gestört, plötzlich sollten wir den Laden über eine Ladezone ein paar Ecken weiter beliefern.“ Blöd: Die war fast immer zugeparkt. Für das Ascawo-Team bedeutete dies Stress, Umplanung, Schlepperei – Tag für Tag.

In Fellbach hingegen wurde er mit offenen Armen empfangen: „Die Ämter sind toll, wenn wir mal ein Problem haben, wird uns im Rathaus sofort geholfen. Das macht richtig Spaß hier.“ Außerdem steht Ascawo hier eine fast doppelt so große Ladenfläche zur Verfügung. „Sogar mit eigenen Parkplätzen“, lacht Ireland. Dass er nicht mehr von Baustellen umgeben ist, führt er als weiteren Pluspunkt an: „Wir haben im Laden zeitweise unser eigenes Wort nicht mehr verstanden.“

Und nicht nur die Bauarbeiten haben die Lage unattraktiv gemacht: „Durch den Abriss des Karstadt-Gebäudes fiel ein Kundenmagnet in unserer Nähe weg.“ Konkurrenz belebt eben das Geschäft. Stattdessen gibt’s jetzt Primark und das Zalando Outlet: kein würdiger Ersatz. „Es fehlte zunehmend an Boutiquen, Einzelhandelsgeschäften und schönen Cafés in der Innenstadt“, beklagt Ireland. Teile seiner Fellbacher Kundschaft fahren zum Shoppen und Flanieren deshalb nicht mehr raus nach Stuttgart. Stattdessen kommen die Stuttgarter Stammkunden und -kundinnen jetzt nach Fellbach.

Pendeln ist günstiger als ein Studi-Zimmer

Als Elisa Gorontzy ihr Studium 2020 an der Hochschule der Medien (HdM) begann, war ihr nicht klar, dass es zu großen Teilen online stattfinden würde. In Erwartung eines aufregenden ersten Semesters nahm die Studentin in Kauf, einen viel zu hohen Preis für ein viel zu schrottiges Zimmer zu zahlen. Doch aus dem spannenden Studi-Leben wurde aus Pandemie-Gründen erst mal nichts. „Als klar war, dass auch das zweite Semester online stattfindet, bin ich zurück zu meinen Eltern nach Bohlingen gezogen“, erklärt sie.

Auch die folgenden Semester, die teils hybrid und später gar wieder mit Präsenzpflicht stattfanden, konnten sie nicht mehr in die Stadt locken: „Ich bin dann gependelt und habe, wenn nötig, im Studierenden-Hotel übernachtet – das war in Summe günstiger.“ Zweieinhalb Stunden fuhr sie mit der Bahn in die Landeshauptstadt. „Und ich war nicht die Einzige“, erinnert sie sich.

Mittlerweile wohnt Gorontzy wegen ihres Praxissemesters wieder in Stuttgart – vorübergehend. „Es werden bis zu 600 Euro für winzige Zimmer verlangt“, berichtet die Studentin. Ihr jetziges hat sie drei Monate gesucht. „Wenn das nächste Semester wieder hybrid wird, bleibe ich nicht hier“, das weiß sie jetzt schon.

Direkt am Wald, aber nicht ab vom Schuss

Nina Kiesel kommt ursprünglich aus Baach: „Meinem Vater gehört der Landgasthof Adler hier“, erklärt sie. Ihre Ausbildung und viele Arbeitsjahre verbrachte die junge Frau aber in Stuttgart; war, bevor sie 2019 alles aufgab und zurück aufs Land zog, um ihr Seminarhaus Haaus zu eröffnen, Betriebsleiterin im Eventcatering der Schräglage. „Den Job und die Stadt habe ich sehr gemocht“, erinnert sich die Baacherin.

Doch irgendwann bot sich die Chance, direkt gegenüber der elterlichen Gaststätte ein Grundstück zu erwerben und dort was Eigenes zu starten. „Es ist ein Seminarhaus für Gruppen und Teams, die aus ihrem Arbeitsalltag rauskommen, sich abschotten und ohne Ablenkung auf sich selbst konzentrieren wollen“, erklärt sie. In Stuttgart wäre das auf diese Art nicht möglich gewesen, auch wenn die Zielgruppe StuttgarterInnen sind: „Die Grundkosten sind hier niedriger. Trotzdem braucht man von Stuttgart aus nicht lange hierher und ist komplett woanders: nah am Wald und mitten im Grünen mit wenig Ablenkung.“ Auch toll: „Hier im Ort kennt man sich gegenseitig und hat ein anderes Standing: Das bedeutet auch, dass der Support schneller und unkomplizierter als in einer Großstadt ist“, findet Kiesel.

Bessere Bedingungen für Geschäft und Familie

Ganz aufs Land verlagert Alex Hoss seine Geschäfte nicht, aber zumindest partiell: Der Inhaber der Stuttgarter Rad-Reparaturwerkstatt Radtheke eröffnete vor Kurzem in seinem Heimatdorf Aidlingen einen Las-tenradshop in einer alten Mühle, die zuvor jahrelang leer stand. „Ich hatte hier draußen die Möglichkeit, eine Immobilie zu erwerben, die ich in Stuttgart nie bekommen hätte: Ein freistehendes Haus in Stuttgart wechselt nicht unter ein paar Millionen den Besitzer“, sagt Hoss.

Dass er den Laden nicht irgendwo im Kessel eröffnet hat, hat aber auch andere Gründe: „Zum einen übernehme ich  mit meiner Familie das elterliche Haus hier“, erzählt er. In Stuttgart hätte er sonst sein Leben lang zur Miete in einer Wohnung gewohnt. „Zum anderen ist die Luft hier besser, man hat viel mehr Platz und die Leute hier kennen das Thema Lastenrad bisher nur aus dem Fernsehen.“ Stichwort: Konkurrenz. Um zu verhindern, dass die Händler die Fahrradpreise aufgrund von zu viel Konkurrenz drücken, liefern die Hersteller nur an eine bestimmte Anzahl von Shops. Das Maximum ist in einer Großstadt schnell erreicht. „Hier auf dem Land habe ich das Problem nicht, dass ich mal diese oder jene Marke nicht bekomme, weil sie schon jemand anders führt“, erklärt der Lastenradhändler. Hier ist Hoss quasi noch Pionier.

Interview

Was tun, wenn alle die Stadt verlassen?

All by myself

Was wird eigentlich aus der Innenstadt, wenn alle wegziehen? Professor und Leiter des Instituts für Raumordnung und Entwicklungsplanung der Uni Stuttgart, Jörn Birkmann, über fehlende Aufenthaltsqualität, ungenutzte Chancen und Shopping im Grünen.

 

LIFT Woran liegt es, dass die Einwohnerzahlen rückläufig sind?

Birkmann In einigen Stadtteilen ist der Grund, dass die Sterberaten höher als die Geburtenraten sind. Vielfach liegt es aber auch daran, dass die Leute  ins Umland ziehen – beispielsweise aufgrund zu hoher Miet- oder Hauspreise in der Stadt. Denn wenn diejenigen, die wegziehen, nur ihren Wohnort nach außen verlagern, ihren Lebensschwerpunkt aber weiterhin in Stuttgart haben, kann man daraus schlussfolgern, dass schlichtweg die Wohnsituation ein Problem ist.

LIFT Was kann Stuttgart dagegen tun?

Birkmann Als Großstadt kann man da gegenlenken und grünen und preisgünstigen Wohnraum schaffen. Wir reden hier von ein paar tausend Leuten, das ist etwa im Vergleich zu Städten in Ostdeutschland nach der Wende noch gar nichts.

LIFT Inwiefern ist es problematisch, wenn sich auch der Einzelhandel aus Stuttgart zurückzieht?

Birkmann Wir hatten es schon vor der Pandemie mit einer Entwicklung weg vom klassischen Einzelhandel hin zum Onlinehandel zu tun, das hat die Pandemie noch verschärft. Da müssen sich Städte wie Stuttgart Konzepte überlegen, wie sie auch für den Einzelhandel die Attraktivität der Innenstadt steigern können, sodass keine Leerstände entstehen. Wenn der Einzelhandel aus der Innenstadt ins Umland zieht, zum Beispiel, weil die Ketten ihn kaputtmachen, ist das höchst problematisch. Dann haben wir die Situation, dass immer mehr Leute zum Shoppen „auf die grüne Wiese“ rausfahren, wo sie auch noch bequem parken können.

LIFT Was kann man gegen diese Entwicklungen tun?

Birkmann Der Umbruch im Handel kann auch eine Chance sein, wieder mehr bezahlbaren Wohnraum und Aufenthaltsqualität jenseits des Shoppens in der Innenstadt zu schaffen. Früher wurde Wohnraum an den Höchstbietenden vergeben, mittlerweile ist man da schlauer und bevorzugt diejenigen, die Mischkonzepte statt teurer Penthouse-Wohnungen anbieten. Stuttgart ist da ein gutes Beispiel. 

LIFT Aber nicht das Beste, oder?

Birkmann Klar gibt es auch Dinge, die man hätte attraktiver gestalten können: bestimmte Plätze in der Stadtmitte, an denen die Aufenthaltsqualität gleich Null ist oder das Milaneo-Areal zum Beispiel. Die Wasserspiele dort sind schon mal toll, aber was ist mit einem Zugang zum Park? Warum sind nur Ketten angesiedelt? Wenn man nach Stuttgart zieht, will man ja nicht gleich in ein Sommerschlussverkaufsgefühl hinein rauschen. Wünschenswert wäre auch, dass Stuttgart was aus seiner Lage am Neckar macht, das ist verschenktes Potenzial. Liegewiesen, Restaurants auf dem Wasser, attraktive Fuß- und Radwege am Neckar oder Wohnen am Wasser wären schöner als eingezäunte Industriegebiete.

Interview: Petra Xayaphoum

Dieser Artikel ist aus LIFT 04/22

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