Stuttgart zwischen Luxus und Tafel

Die Schere öffnet sich: Die Reichen werden reicher, während die Armen ärmer werden

„Seit März 2020 ist das Vermögen der aktuell 2.755 MilliardärInnen um fünf Billionen US-Dollar gestiegen, von 8,6 auf 13,8 Billionen. Sie haben ihr Vermögen während der Pandemie damit stärker vermehrt als in den gesamten vierzehn Jahren zuvor.“ So steht es im neuesten Ungleichheitsbericht der Entwicklungsorganisation Oxfam. Auf Deutschland bezogen legt der Bericht deckungsgleiche Trends offen: Die zehn reichsten Deutschen konnten seit Pandemiebeginn ihr Vermögen von 144 Milliarden US-Dollar auf 256 steigern. Einen Rekordgewinn von 129 Milliarden Euro haben auch die Dax-Konzerne 2021 eingefahren – und das Jahr 2022 dürfte laut Handelsblatt nach ersten Schätzungen und Analysen mit rund 120 Milliarden auf Platz zwei der deutschen Wirtschaftserfolgsgeschichte landen. Mit schätzungsweise rund 13 Milliarden Gewinn 2022 trägt die Stuttgarter Mercedes-Benz-Group mehr als ein Zehntel zu dieser Rekordsumme bei. Und auch bei Porsche klingelt’s: Ende 2022 hat die Porsche AG Puma aus der obersten Börsenliga der Dax-40 gekickt. Güldene Ausschüttungszeiten für Beschäftigte und AktionärInnen. Währenddessen klettert die Armutsquote in Deutschland auf einen Höchststand von rund 16 Prozent. Zum ersten Mal seit 25 Jahren liegt eine gleichzeitige Zunahme von extremem Reichtum und extremer Armut vor. Die letzten Bastionen der Maskenpflicht mögen gefallen sein, die Folgen der Pandemie halten aber an und werden zunehmend deutlicher: Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter als je zuvor.

Die Region Stuttgart bleibt von den Entwicklungen nicht verschont. Die Schlangen vor den Tafelläden und vor Essensausgabestellen wie Harrys Bude am Marienplatz werden immer länger. Wenige Straßen weiter: Luxuskarossen, Schlangen vor Louis Vuitton. Die kleineren Shops: leer. „Wir haben bei der Kundschaft im letzten Jahr eine große Verunsicherung wegen der Energiepreise feststellen müssen“, schildert Sabine Hagmann vom Handelsverband Baden-Württemberg die Situation des Einzelhandels. Auch die hohe Inflation hat eine Kaufzurückhaltung zur Folge gehabt, erzählt sie. „Wenn Menschen mit weniger Mitteln höhere Ausgaben für Miete und Energie tätigen müssen, wird das Geld für Anschaffungen und auch für die Gastronomie knapper.“ Es wird weniger gekauft und statt Markenprodukte landen immer öfter Produkte der Supermarkt-Eigenmarke im Einkaufskorb.

Schlangen bei Louis, Schlangen bei Harry

„Im hochpreisigen Segment ist diese Entwicklung nicht zu spüren“, so die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbandes. Im Gegenteil: „Im ganz hochpreisigen Bereich stellen wir sogar fest, dass bestimmte Marken zunehmend sehr gefragt sind. Vor allem im Luxus-Fashion-Bereich.“ Auch was Einrichtung und Möbel angeht, boomt das Geschäft im Bawü. „Auch das sind nennenswerte Investitionen, wenngleich nicht zwingend aus dem Luxussegment“, betont Hagmann. „Multikrisen, wie wir sie gerade haben, sind große Verstärker der sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich.“

Wenn es so weitergeht, sieht sie darin eine große Gefahr für die Innenstadt. „Wir werden Unternehmen und Vielfalt verlieren. Die letzten Jahre waren für einige Geschäfte existenzgefährdend. Der Einzelhandel ist aber essenziell, er pflegt die Innenstädte, belebt und kultiviert sie, sorgt für Sicherheit, Sauberkeit und bietet Arbeits- und Ausbildungsplätze. Wenn er geht, wird die Innenstadt für alle weniger attraktiv und lebenswert – und Schlafstädte wie in Amerika möchte niemand.“

VIP-Tickets verkaufen sich wie geschnitten Brot

Auch eine bunte Kulturszene ist fester Bestandteil einer lebenswerten Innenstadt. Doch auch hier macht sich die zuspitzende Lage bemerkbar: „Der große heiße Scheiß wie etwa Tickets für Beyoncé sind innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, obwohl sie viel teurer geworden sind – aber das interessiert die Leute nicht“, so Christian Doll, Geschäftsführer des hiesigen Veranstalters C2 Concerts. Hochpreisige Upselling-Maßnahmen wie VIP-Tickets, VIP-Areas auf Festivals und Meet-and-Greets verkaufen sich wie geschnitten Brot, sagt er. „Es gibt immer mehr Leute, die bereit sind, für Extras mehr Geld auszugeben.“

Gleichzeitig tun sich Shows im kleinen und mittleren Segment schwer. Daher wünscht Doll sich eine Wirtschaftlichkeitshilfe vom Land für Besucherzahlen bis zu 2.000 Leuten. „In anderen Bundesländern gibt es das bereits“, erklärt er. Sie führen quasi den Sonderfond zur Unterstützung der Veranstaltungsbranche, der Ende 2022 ausgelaufen ist, auf Landesebene fort. „Das braucht Baden-Württemberg auch. Bei einer Auslastung von aktuell 40 bis 60 Prozent sind solche Shows nur mit Förderung kostendeckend umsetzbar.“ Dabei sind es gerade die kleinen und mittleren Konzerte und nicht die Beyoncés dieser Welt, die für eine bunte regionale Kulturszene und Newcomerförderung wichtig sind.

 

Support für Konzerte im kleinen bis mittleren Segment ist nötig

Dass vergünstigte Tickets, Familientickets und Rabattaktionen sich im Kulturbereich aktuell einer großen Nachfrage erfreuen, darin sind sich Doll und Viktor Schoner, Intendant der Staatsoper, einig. Auch wenn Schoner zu bedenken gibt, dass sich die Oper im Vergleich zur Freien Szene in einer privilegierten Position befindet. „Es sind vielleicht ein paar weniger Limousinen in der Tiefgarage bei den Premieren. On the long Run haben wir aber keinen Rückgang bei den Abos verzeichnet, auch, wenn sich im November kurzzeitig eine kleine Gaspreispanik breitgemacht hat.“ Auch in den eigenen Reihen: „Unter unseren 1.400 Leuten sind natürlich viele, die keine Opernstar-Gagen verdienen – da sind Preissteigerungen ein Riesenthema. Daher freue ich mich, dass die Gewerkschaften es geschafft haben, die Mindestgage um viele Prozentpunkte anzuheben.“

Wenn man mit Eberhard Haußmann vom Kreisdiakonieverband Esslingen über steigende Armut und Nachfrage nach Hilfsangeboten spricht, zeigt er sich besorgt. „Ich arbeite seit 1996 in meinem Job. Die elementare Veränderung ist mit Hartz vier passiert, viele Menschen rutschen seitdem in die Grundsicherung ab, etwa durch die Zwangsverrentung, die bis letztes Jahr noch möglich war.“ Seit der Multikrise hat die Tafel der Diakonie noch „eine neue Zielgruppe dazugewonnen“. Menschen, die zuvor über die Runden gekommen sind und viele Geflüchtete aus der Ukraine. „Vierköpfige Familien etwa, die auf 75 Quadratmetern wohnen und bei denen ein Elternteil durch Corona seinen Job verloren hat. Auch durch das viele Homeschooling entsteht zusätzliche Spannung, die Familien mit mehr Platz und Geld nicht erleben.“ Durch den Ukrainekrieg hat Haußmann schätzungsweise 30 bis 40 Prozent mehr Kundschaft bei der Tafel. Die Schuldnerberatung der Diakonie ist restlos überbucht. Gleichzeitig sind die Anträge für Hilfsleistungen so komplex, dass sich selbst die MitarbeiterInnen immer wieder neu einlesen müssen.

Armut ist Mangel an Teilhabe

Bezahlbarer Wohnraum sowie Mobilität sind für Haußmann wichtige Themen, die zur Verbesserung der Situation beitragen würden: „Das 9-Euro-Ticket wurde von Menschen mit wenig Geld sehr gut angenommen. Es hat Teilhabe ermöglicht. Wenn eine Familie mit mehreren Kindern aus Nürtingen durch Programme für einkommensschwache Familien etwa Karten für die Wilhelma bekommt, kann sie sich ohne 9-Euro-Ticket oft die Anfahrt trotzdem nicht leisten.“ Auch für Kinder, die etwa mit dem Bus zu Vereinsaktivitäten fahren müssen oder RentnerInnen, die durch Fahrten zum Arzt oder zur Ärztin noch weniger Geld in der Tasche haben, hätte Haußmann sich eine Fortführung des 9-Euro-Tickets gewünscht.

Denn: „Armut ist Mangel an Teilhabe, Verwirklichungschancen und Perspektiven“, erklärt Christian Arndt, VWL-Professor – insbesondere für Empirische Wirtschaftsforschung – an der Hochschule Nürtingen. Das Thema Ungleichheit war in der Vergangenheit eines seiner Schwerpunktgebiete. „Global nimmt der extreme Reichtum Einzelner sehr stark zu. Teils ist das aufs Vererben zurückzuführen, viele dieser Superreichen sind außerdem UnternehmensgründerInnen, die Plattformeffekte nutzen können.“

Reichtum geht mit einem großen Öko-Footprint einher

Als Leiter des Zentrums für Nachhaltige Entwicklung kommt Arndt nicht umhin zu bemerken: „Extremer Reichtum und ökologischer Footprint stehen in Zusammenhang: Mit dem Lebensstil, der mit Reichtum einhergeht – Stichwort Reisen, Flüge, Yachten und so weiter – kommt auch ein größerer Fußabdruck zustande.“ Das Konsumverhalten der Reichen trägt auf globaler Ebene wiederum zu schlechteren klimatischen Bedingungen und Perspektiven auf Seite der Ärmeren und zu größeren Flüchtlingsströmen bei. Ein Abwärtsstrom.

Mit Blick auf Deutschland zeichnet Arndt ein gemischtes Bild: Die Lebenserwartung, die mit guter Gesundheitsversorgung und finanziellen Mitteln der BürgerInnen korreliert, ist gestiegen. Gleichzeitig  hat die Beschäftigung zugenommen, die Lohnschere hat sich durch den Mindestlohn eher geschlossen. Positive Entwicklungen auf der einen Seite also. Bedenklich aber ist: „Die positiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt haben sich nicht auf die Armutsrisikoquote ausgewirkt“, so Arndt. „Die starke Inflation im Moment trägt zur Zunahme der Ungleichheit bei. Der Anstieg der Verbraucherpreise trifft die Einkommensschwachen stärker.“ Die Wohnungslosigkeit nimmt zu, neue Probleme wie etwa Energiearmut entstehen. Ein Viertel der deutschen Haushalte gibt mittlerweile mehr als zehn Prozent des Nettoeinkommens für Energie aus.

Städte haben höhere Armutsrisikoquoten

„In Städten sind die Armutsrisikoquoten deutlichen höher“, gibt der VWL-Professor außerdem zu bedenken. „Die Zahl der Menschen, die in der Grundsicherung sind, ist in Städten wie Stuttgart deutlich höher als im Bundesschnitt. Im Bund kommt man auf etwa zehn, in Städten auf etwa 14 Prozent – das ist gut die Hälfte mehr.“ Das bewirkt, dass in den Städten Phänomene wie Resignation und Zukunftsangst, die sich negativ auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft auswirken, zunehmen.

„Hier trägt der Bildungssektor eine große Verantwortung“, sagt Arndt. „Gute Bildung, unternehmerische und finanzielle Bildung miteingeschlossen, ist der Schlüssel zu sozialem Aufstieg.“ Blöd nur, dass der Bereich Bildung einer der Austragungsorte der Ungleichheitsolympiade ist. „Der Bildungsfortschritt der Kinder hängt vom Geldbeutel des Elternhauses ab“, sagt Manja Reinholdt, Vorsitzende des Gesamtelternbeirats Stuttgart. „Das hat sich in der aktuellen Lage noch verschärft. Eltern aus dem Niedriglohnsektor sind genötigt, zusätzliche Jobs anzunehmen und können sich weniger um die Unterstützung der Kinder kümmern.“ Das Förderprogramm des Landes, „Lernen mit Rückenwind“, sollte die Lage verbessern. „Aber es greift nicht so, wie wir uns das wünschen“, schildert Reinholdt die Situation. „Es gibt lange Wartelisten, die Gutscheine können nicht eingelöst werden, viele Eltern mit Sprachbarrieren wissen nicht, wie und an wen sie sich wenden können und werden allein gelassen.“

Survival of the Richest

Durch anhaltenden Unterrichtsausfall bedingt durch Personalmangel haben Kinder große Bildungslücken. „Es gibt zu wenig Vertretungsreserven, zu wenig Lehrkräfte“, bemängelt die Elternbeiratsvorsitzende. Damit kommen Familien, die sich etwa Nachhilfe, zusätzliche kostenpflichtige Angebote wie Musikschule oder überhaupt das Zuhausebleiben und Betreuen leisten können, besser klar, als Eltern in Schichtarbeit, Alleinerziehende oder Familien mit zwei arbeitenden Elternteilen.

Unerfreulich ist es aber für beide Parteien. Die Folge: „Eltern mit entsprechenden finanziellen Mitteln strömen auf Privatschulen zu“, sagt Reinholdt. Dabei gibt sie zu bedenken, dass Stuttgart im Vergleich zu anderen Städten in Baden-Württemberg immer noch recht gut dasteht. Kleinere Kommunen können Dinge, wie Schulsozialarbeit, finanziell nicht stemmen. Schon das Thema Luftfilter anschaffen bereitete vielen Probleme.

 

Der Trend geht zur Privatschule

Beim Schimpfen Richtung Kultusministerium mache man es sich aber zu einfach. „Das Kultusministerium kann auch nur mit dem Geld arbeiten, das im Haushalt beschlossen und ihm zur Verfügung gestellt wird“, gibt Reinholdt zu bedenken. Wahrgenommen wird die sich zuspitzende Thematik im Ministerium nämlich durchaus: „Den IQB-Bildungstrend hatten wir gerade erst und er hat deutlich gezeigt, dass die Schere zwischen den SchülerInnen aufgegangen ist. Das ist ein Alarmzeichen, da haben wir Nachholbedarf“, sagt Kultusministerin Theresa Schopper. „Wenn Kinder die Unterstützung – sei es finanziell, bei den Hausaufgaben oder beim Lernen – von zu Hause aus nicht haben, wirkt sich das negativ auf ihre Entwicklung aus.“ Auf lange Sicht ergeben sich verheerende Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft: „Die Kinder, die die Mindeststandards nicht erreichen, werden in die Lage kommen, dass sie nach ihrem Schulabschluss nicht ausbildungsfähig sind, wenn es so weitergeht. Diesen Trend gilt es zu verhindern.“ Denn der Fachkräftemangel ist jetzt schon da.

Möglichst früh einzugreifen, wo es nötig ist, wäre in Schoppers Augen optimal: „Man kann sich überlegen, wie man bereits bei der Schuleingangsuntersuchung ansetzt, wenn sich da ein Defizit bemerkbar macht. Dass im Anschluss etwa Fördermaßnahmen ausgelöst werden, die verbindlich sind.“

Außerdem findet sie, dass die Ressourcen besser verteilt und dorthin gesteuert werden müssen, wo sie am nötigsten sind. „Wir messen und testen viel, um herauszufinden, wo man nachsteuern kann. Das Ziel ist, Schritt für Schritt eine Koppelung von Bildungserfolg und beruflichem Erfolg hinzubekommen. Das hat am Ende auch wirtschaftlichen Erfolg zur Folge. Und diese Arbeit müssen wir fortsetzen: Der Geldbeutel darf nicht der entscheidende Faktor für eine gute Schulbildung sein.“

Petra Xayaphoum

Dieser Artikel ist aus LIFT 03/23

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