LIFT-AKTUELL

LIFT-Leseprobe im Dezember 2018

An dieser Stelle gibt es jeden Monat eine Leseprobe zum Download sowie einen Artikel aus unserer aktuellen LIFT-Ausgabe.

LIEDERKRANZ, SCHREBERGARTEN & CO: TRADITIONSVEREINE ZWISCHEN VERGREISUNG UND MODERNE

Vereint euch wieder!

Ob Gesangs-, Wander- oder Kleingartenverein – überall in Stuttgart leiden Traditionsvereine unter Mitgliederschwund und Vergreisung. Zugleich gibt es mehr Neugründungen denn je. Kapseln sich die Jungen von den Alten ab? Und was geht da verloren? Mancher Verein hat die Hoffnung auf Nachwuchs längst aufgegeben, in der Kleingartenkolonie eskaliert der Generationenclash und andere zeigen, wie es besser geht.

Die Festhalle in Fellbach-Oeffingen ist eigentlich eine Turnhalle, an diesem Vormittag riecht es in ihr aber weniger nach Schweiß als nach Tier. In Dutzenden Käfigen reihen sich Kaninchen, Tauben und Hühner aneinander. Bewertungen wie „loses Brustfell“ oder „knochiges Hinterteil“ tragen sie mit Fassung, auch das Kaninchen, das von den Preisrichtern als „prima Typ“ ausgezeichnet wurde, zeigt sich davon eher unbeeindruckt. Die Besucherzahl der Kleintierzüchterschau würde etwaige Allüren auch kaum rechtfertigen: Bis auf einige Familien mit Kindern bleiben die Züchter unter sich.

Die meisten sind bereits im Rentenalter – und vielleicht die letzten ihrer Art. „Es gibt ein großes Nachwuchsproblem“, erklärt Manfred Rommel, Schatzmeister beim Zentralverband Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter. „Bundesweit haben wir 80.000 Mitglieder weniger als noch vor 20 Jahren.“ In seinem Ortsverein seien im vergangenen Jahr drei Mitglieder gestorben – „das können wir nicht auffangen“. Der 79-Jährige züchtet seit seinem zehnten Lebensjahr Kaninchen, eine Leidenschaft, die heute nur noch wenige teilen. Das Freizeitangebot sei größer geworden, vermutet Rommel, zudem hätten die Menschen weniger Zeit und ein größeres Bedürfnis nach Unabhängigkeit. „Die Zucht macht viel Arbeit, man kann nicht einfach in den Urlaub fahren.“ Dass immer mehr Vereine  um ihre Existenz bangen, sieht er als Verlust: „Sie bringen Leben in die Region, da geht eine ganze Kulturgemeinschaft verloren.“

Wie den Kleintierzüchtern geht es auch vielen anderen Traditionsvereinen in Stuttgart und Region. Der Albverein in Heumaden etwa musste sich 2017 nach 116 Jahren auflösen. Einer Studie vom Stifterverband zufolge gaben im Zeitraum von 2006 bis 2017 in Stuttgart 447 Vereine auf, in ländlichen Regionen sind die Zahlen noch gravierender.

Dabei gehen aber nicht nur Traditionen verloren, sondern auch Lebensqualität und gesellschaftlicher Zusammenhalt – ein Verein gilt schließlich als wichtiger Kitt für die Gemeinschaft, da es hier traditionell zum Austausch zwischen verschiedenen sozialen Schichten und Generationen kommt.

Trotzdem greift das Schlagwort „Vereinssterben“ zu kurz: In Stuttgart gibt es aktuell 6.560 Vereine, zehn Prozent mehr als noch vor sieben Jahren. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass der Nachwuchs lieber sein eigenes Ding macht, als sich in bestehenden Strukturen zu engagieren.

So beispielsweise beim Singen: Ob im Laboratorium, in der Rosenau oder unter der Paulinenbrücke, überall in Stuttgart sprießen offene Chöre aus dem Boden, und die können sich vor Andrang kaum retten.

Beim Liederkranz Bad Cannstatt 1903 braucht man dagegen keinen Trend – sondern neue Mitglieder. Von den verbliebenen 58 Mitgliedern sind aus Altersgründen nur noch zehn aktiv, zum Singen trifft man sich deshalb mit einem zweiten Verein. „Die meisten sind bei uns über 60, viele sogar über 80 Jahre alt“, sagt Vorstandsvorsitzende Waltraud Börmann.

Gut ist die Stimmung im Vereinsheim trotzdem, es herrscht ein fast neckischer Ton. Die meisten kennen sich seit Jahrzehnten, die 68-jährige Börmann sang bereits mit vier im damaligen Kinderchor mit. „Man geht gemeinsam durchs Leben“, sagt sie. Früher habe man jung angefangen und später die eigenen Kinder mitgebracht. Die Jungen seien aber irgendwann weggezogen oder nicht mehr gekommen, bedauert Börmann: „Vereine wie dieser sterben aus, auch uns gebe ich nur noch wenige Jahre.“

Kapseln sich die Jungen also von den Alten ab? Es geht auch anders: Die 36-jährige Silke von Carlsburg etwa singt gemeinsam mit ihrem Mann Matthias im ökumenischen Kirchenchor in Heslach, obwohl sie dort die Jüngsten sind. Im Vordergrund steht für sie der Spaß am Singen: „Es ist etwas Körperliches dabei, weil sich der Körper entspannt und der Geist erholt“, erklärt von Carlsburg. Außerdem sei der Klang, wenn man in einer Kirche singe, etwas Besonderes. Ebenso wichtig ist ihr die Gemeinschaft: „Man lernt viele Menschen unterschiedlicher Couleur kennen, das bereichert ungemein.“

Wo mehrere Generationen zusammenkommen, können aber auch Welten aufeinanderprallen. Beim Besuch im Kleingartenverein Stuttgart-Prag beim Nordbahnhof wähnt man sich beinahe im Staffelfinale einer sehr deutschen Variante von „Game of Thrones“. „Hier herrscht ein rauer Ton“, gibt der Vorstandsvorsitzende Bertram Wohlfahrt zu. Er sieht keinen Grund, sich zurückzuhalten – die Sitzung, bei der es um seinen Kopf gehen soll, ist schließlich längst geplant. Der 43-Jährige ist eines der jüngsten Vereinsmitglieder und hat den Vorsitz erst seit einem halben Jahr inne. Schon den gewann er nur mit 18:14 Stimmen – und das ohne Gegenkandidaten.

Die Konfliktlinie verläuft zwischen Jung und Alt, Streitpunkte gibt es viele: Neben der Gartenordnung und Kinderlärm geht es um Kettenrauchen und Saufgelage im Vereinshaus, Asbestplatten auf Laubendächern, intransparente Aufnahmekriterien und Kassen, unsichere Stromkabel im Boden.

Bisweilen kommt es sogar zu Gewalt: Bei einem Fest im Sommer nahm ein älteres Vereinsmitglied den Sohn eines anderen in den Schwitzkasten, eine frühere Vorstandswahl endete nach einer Schlägerei im Krankenhaus.

Als beim Rundgang über die 33 Parzellen ein anderes Mitglied entgegenkommt, grüßt es Wohlfahrt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Das Misstrauen ist so groß, dass eine der Lauben sogar per Kamera überwacht wird.

„Das wichtigste Anliegen war für mich der Generationswechsel“, sagt Wohlfahrt. Den habe er nicht geschafft, auch wenn er dank der Altersstruktur nur eine Frage der Zeit sei. „Wenn man den Fuß ins 21. Jahrhundert setzen will, muss sich was ändern.“

Tatsächlich braucht man nur wenige Schritte, um dorthin zu gelangen: Gleich hinter der umzäunten Kleingartenkolonie liegt das preisgekrönte Urban-Gardening-Projekt Stadtacker. Auch das ist ein Verein mit Satzung. Um hinter dem Containerdorf bei den Wagenhallen mitzugärtnern, muss man allerdings kein Mitglied sein. überhaupt wirkt das Projekt wie ein Gegenentwurf zur Spießerhölle Kleingarten.

Bis auf wenige ökologische Vorgaben gibt es weder feste Regeln noch einen Zaun. „Unsere fast 100 Gärtner sind durchmischt von Jung bis Alt, von Stuttgartern bis hin zu Geflüchteten“, sagt Vorstandsmitglied Elisa Bienzle. Es seien ebenso Rentner wie Kinder von der Kita Rosenstein beteiligt. Auch das, was sie beim Stadtacker eine ungezwungene, organische Selbstorganisation nennen, führt manchmal zu Konflikten – dann aber, so Bienzle, auf Grundlage von Toleranz und Respekt. Eigentlich ein ideales Beispiel für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, den Vereine stiften können.

Trotzdem könnte auch der Stadtacker schon bald Vergangenheit sein. Er befindet sich auf S21-Baugelände, das dem Verein seit aber 2012 nur zur Zwischennutzung überlassen wurde. Während der Sanierung des Opernhauses soll nach dem Willen der Stadt auf dem Gelände nun die Ausweichspielstätte der Oper entstehen. Ob der Stadtacker eines Tages ebenfalls auf 100 Jahre Vereinsgeschichte zurückblicken kann, ist also fraglich.

 

Text: Frank Rudkoffsky

Fotos: Laura Holzmann

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